Microsoft hat mit dem Lumia 950 und 950 XL jetzt die ersten Smartphones ausgeliefert, auf denen Windows 10 Mobile installiert ist. Da bietet es sich ja an, einen Blick drauf zu werfen. Das XL Modell stand mir leider bisher nicht zur Verfügung, aber das “kleine” 950 fand den Weg zu mir.
Das Lumia 950 ist ein 5,2” Gerät mit sechskernigem Qualcomm SoC, während das 950 XL mit 5,7” Display und acht Kernen aufwarten kann. Der Akku beim XL ist größer, damit wären dann allerdings die wichtigsten Unterschiede schon aufgezählt. Beide Geräte gibt es auch in einer Dual-SIM Version – das XL Dual-SIM allerdings bisher offiziell nicht in Deutschland.
Als man die beiden Geräte entworfen hat, durften die Entwickler wohl aus dem Vollen schöpfen und vieles von dem, was bisher bei Smartphones immer wieder störend war, von Anfang an besser machen. Und so finden sich in einem Flaggschiff-Gerät sowohl ein wechselbarer Akku als auch ein Micro-SD Slot (z.Zt. freigegeben für Karten bis 200 GB). Beides nicht selbstverständlich – insbesondere nicht bei Flaggschiff-Geräten.
Dazu kommt ein AMOLED Display mit 2560×1440 Pixeln. Das ist nebenbei die selbe Auflösung, die mein 27” Monitor am Desktop-PC bietet, um das mal in Relation zu setzen. Bei 5,2” heißt das, wir haben 564 Pixel pro Zoll. Einzelne Pixel zu erkennen ist quasi unmöglich. Farbe und Helligkeit sind nahezu perfekt und auch beim Blick schräg von der Seite gibt es erst dann Farbverfälschungen, wenn man so schräg aufs Display schaut, dass man eh nichts mehr lesen kann. Schwarz ist tiefschwarz, wie man es von AMOLED Displays kennt.
Das Display unterstützt Display-Memory, bei Microsoft “Glance” bzw. “Blick” genannt. Hierbei können, während das Handy im Standby-Modus schläft, Benachrichtigungen auf dem Display angezeigt werden. Das Display verbraucht hierbei nur bei Änderungen des Bildschirminhaltes Strom. Ein einfacher Blick aufs Display reicht also schon, um zu schauen, ob Mails oder Nachrichten vorliegen, wie das Wetter ist oder wann der nächste Termin ansteht.
Selbstverständlich findet sich die Möglichkeit, das Handy per Qi Ladestation drahtlos aufzuladen genauso, aber auch die Möglichkeit zur Schnellladung über den USB-C Port. Letzterer bindet auch externe Geräte an – sowohl direkt als auch über ein separates USB-C Dock.
In Sachen Funk gibt es neben Bluetooth 4.1 auch AC-WLAN mit MIMO, welches sich hier mit 866 Mbit/s zum Accesspoint im nächsten Stockwerk verbindet und LTE mit bis zu 300 Mbit/s. Die Verbindung zu T-Mobile wird hier dann auch tatsächlich mit 286 Mbit/s angegeben. Respekt!
Der 3000 mAh Akku ist bei meiner typischen Nutzung nach zwei Tagen leer. Das ist für ein Gerät dieser Leistungsklasse okay, wenn auch nicht überwältigend. Er lädt allerdings über das mitgelieferte USB-C Netzteil recht flott auf. Das Kabel ist an diesem übrigens fest angebracht. Ein zusätzliches USB-A auf USB-C Kabel wird allerdings mitgeliefert. Der Port spricht übrigens USB 3.1.
Die Kamera mit Sechs-Linsen Zeiss Optik mit f/1,9 löst mit 20 Megapixeln auf, hat einen Dreifach-LED-Blitz, optischen Bildstabilisator und einen minimalen Fokusabstand von 10 cm. Im Video-Modus kann sie 4k Videos aufzeichnen. Eine 5 Megapixel “Selfie-Kamera” kommt noch dazu. Natürlich gibt es einen separaten Kamera-Auslöser, mit dem das Handy auch aufgeweckt werden kann.
Der 120 fps Zeitlupenmodus ist momentan noch nicht in der Kamera-App zu finden. Beim Lumia 930 ist dies aber bereits der Fall. Auch kann man dort in 60 fps Video aufzeichnen, während das 950 bisher nur die normalen 30 fps erlaubt. Schauen wir mal, was die kommenden Updates bringen werden.
Die Kamera selber startet quasi ohne Wartezeit. Hat man auf den Kamera-Knopf gedrückt, ist sie bereit. Nur bei starker Dunkelheit verhaspelt sich der Autofokus teilweise – ein Luxusproblem, andere Geräte machen dann schon gar keine Bilder mehr. Durch die hohe Lichtstärke des Objektivs und den Bildstabilisator gelingen auch in sehr dunkler Umgebung noch unverwackelte Bilder, selbst bei 1/5,6el Sekunden Belichtungszeit. Bei 800 ISO ist natürlich irgendwann der Bereich erreicht, an dem das Bild merklich rauscht.
Als weitere Neuigkeit findet sich eine “Windows Hello” kompatible Infrarot-Kamera zur Iris-Erkennung im Gerät, mit der das Handy alleine durch einen Blick anstelle einer PIN entsperrt werden kann.
Die Erkennung funktioniert nach kurzer Anlernphase überraschend gut, ist allerdings immer noch langsamer als die meisten Nutzer ihre PIN eintippen können. Somit ist dies momentan mehr ein Show-Effekt als eine sinnvolle Anwendung. Die Frage ist, inwiefern in Zukunft Anwendungen diese Funktion auch nutzen werden.
Der USB-C Port wurde ja schon erwähnt. Er taugt zum Verbinden von USB Geräten wie Speichersticks, Tastaturen oder Mäusen, führt aber auch ein Grafiksignal. Mit einem Adapter von USB-C auf HDMI lässt sich direkt ein Bildschirm verbinden.
Microsoft bietet allerdings auch ein USB-C Dock an, welches USB Ports für Tastatur und Maus und Displayport und HDMI für den externen Monitor mitbringt und zudem eine Buchse für die Stromversorgung.
Damit bringt man dann Windows 10 Mobile auf den großen Bildschirm. Allerdings ist es nicht etwa so, dass einfach der Handy-Bildschirm geklont und dieser Inhalt dann vergrößert wird. Stattdessen wird der Monitor als eigenständiger Bildschirm angesteuert, d.h. man kann parallel das Handy weiter nutzen. Die normale Startoberfläche taucht am externen Bildschirm wie ein normales Windows 10 Startmenü auf und die mitgelieferten Apps starten wie an einem Windows 10 PC. Es sind schließlich auch die gleichen Apps. Somit laufen dann zum Beispiel Word oder Powerpoint Mobile, der Edge Browser oder die Mail-App wie auf PC oder Tablet.
Das Handy kann alternativ auch als Touchpad benutzt werden, um einen Mauscursor zu steuern – ganz ohne Tastatur. Werden Tastatureingaben nötig, wird dann eben eine Bildschirmtastatur eingeblendet.
Damit nicht genug, die ganze Sache funktioniert auch noch über WLAN zu einem Miracast-kompatiblen Empfänger! Im Test tat ein Amazon FireTV als Empfänger seinen Dienst. Und es steckt so viel Multitasking-Fähigkeit in Windows 10 Mobile, dass man parallel mit der Kamera des Handys den Fernseher fotografieren kann, auf dem selbiges Handy gerade via Continuum über WLAN seine Oberfläche samt Apps zeigt.
Eine Nutzung von Apps in mehreren Fenstern ist momentan noch nicht möglich. Aber das ganze Konzept ist für die Zukunft und mit weiter steigender Hardware-Leistung sicherlich in der Hinsicht ausbaufähig. Damit keine Verwirrung aufkommt: es handelt sich hier immer noch um einen ARM SoC und keine x86 CPU. Die Ausführung von Windows Desktop Anwendungen ist also nicht möglich.
In der Handhabung gibt sich das Lumia 950 schon recht problemlos, allerdings hatte ich bisher einen unerwarteten Neustart. Hoffentlich ein Einzelfall oder nur eine kleine Macke des frisch erschienenen Windows 10 Mobile, die mit einem der nächsten Updates abgestellt wird.
Für die Apps gibt es momentan von Microsoft relativ häufig Updates und dabei werden immer wieder auch noch möglicherweise fehlende Funktionen nachgereicht. Die vorhin spontan sich selbst beendende Mail App wurde zumindest gerade mit einem Update bedacht. Hoffen wir, dass der spontane Ausstieg damit behoben wurde.
Wo viel Licht ist, kann man natürlich auch versuchen, Schatten zu finden. In vielerlei Hinsicht ist Kritik natürlich immer von persönlichen Wünschen und Anforderungen abhängig. So habe ich z.B. keinerlei Probleme bei der Umstellung von Sensortasten bei meinen bisherigen Windows Phone Geräten zu den Bildschirmtasten des Lumia 950. Es soll Leute geben, die drüber fluchen.
Kritik zieht Microsoft sicherlich auch von manchen wegen des Designs auf sich. Das Lumia 950 ist sehr schlicht. Ein schwarzer oder weißer Barren, kein Metallrahmen oder -gehäuse, keine besonderen Design-Feinheiten. “Unauffällig” wäre die freundliche Umschreibung dafür. Ich habe auch schon unfreundlichere Beschreibungen gelesen. Durch den Wechsel der Rückenschale kann man dem natürlich entgegen wirken.
Größter Kritikpunkt dürfte zumindest momentan der Preis sein. Offiziell reden wir von einem Gerät für 599 EUR Listenpreis – beim 950 XL sogar 699 EUR. Der Straßenpreis liegt bisher kaum darunter. Das ist eine zumindest selbstbewusste Preisgestaltung. Denn dafür bekommt man zwar viele Funktionen und High-End-Ausstattung, aber kein Gerät, welches auch nach außen hin “ich hab grad viel, viel Geld für ein Smartphone hingelegt” zeigt.
Für wen ist das Lumia 950 nun interessant?
Windows Phone Nutzer, die auf den aktuellen Stand der Technik in Sachen Windows Smartphones wollen, kommen am Lumia 950 oder XL nicht vorbei.
Wer momentan Android oder iOS Geräte einsetzt, wird vermutlich wenig Gründe zum spontanen Wechsel finden. Die App-Vielfalt der beiden anderen Systeme hat Windows bisher immer noch nicht erreicht. Zu hoffen bleibt, dass sich das durch die Vereinheitlichung der Windows Plattform bessert.
Die Ausstattung selber kann mit den aktuellen Top-Geräten aus der Android und iOS Welt mithalten, die Besonderheiten wie Windows Hello oder Continuum reichen allerdings wohl ebenfalls nicht, um massiv Leute zum Wechseln zu animieren.
Microsofts einzige Chance ist, weiter kräftig an der Strategie zu arbeiten, mit der “Universal-App” Plattform zu punkten. Schon 120 Mio Windows 10 User am PC, die die selben Apps nutzen können, wie die Smartphone User und diese aus dem selben Store beziehen, das sollte eigentlich für App-Entwickler ein interessanter Markt sein. Kommt dieser Gedanke endlich auch bei den App-Entwicklern an, löst sich damit eines der größten Probleme, das viele Leute bisher vom Kauf eines Windows Smartphones abhielt.
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Endlich mal ein neutraler Bericht. Ich benutze derzeit ein Galaxy Note 4 und überlege umzusteigen.
Man muss sich halt von dem Gedanken verabschieden, dass es „alle“ Apps gibt. Will man bei jedem Startup mit eigener App gleich vorne dabei sein, wird man vermutlich mit Windows nicht glücklich. Hat man eine gewisse Anzahl von benötigten Apps und schaut vorher, ob es diese oder einen Ersatz auch bei Windows gibt, sind die aktuellen Lumias sicherlich mehr als nur einen Gedanken wert.